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ZUHAUSE/AT HOME

ÖSTERREICHISCHE WOHNKULTUREN

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AUSSTELLUNG
80 ausgewählte Bilder
ALLE BILDER
nach Namen geordnet

Das Dach über dem Kopf

von Paul Albert Leitner


Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.
(Theodor W. Adorno))

Bildsichtung 1.Wir befinden uns in Österreich, Europa. Ein Zelt auf einer Wiese. Orientalische Wandteppiche in einem Wohnzimmer. Wachskerzen. Yogaübungen. Eine Hängematte neben dem PC. Ein lichtdurchfluteter Esstisch und im Hintergrund neue, gut isolierte Fenster. Eine Kleiderabla ge lässt auf Chaos schließen. Ein Sessel. Eine Hi-Fi-Anlage. Allerlei CDs. Ein Haus am Land aus Holz. Tisch, Leselampe, Hauskatze. Eine große Bibliothekswand, ein Kachelofen, drei Bilder an der Wand, vielerlei persönliche Objek te sowie Nippesfiguren. Der vermutliche Hausherr liegt auf seinem Sofa und ruht sich aus. Wiederum Indisches. Poster. Mandalas. Yin-Yang-Darstel-lungen. Gay-Malereien.
Wiederum die PC-Dominanz. Der Computer als künstliches Gehirn. Parkettböden und atmungsaktive Möbel: ökologisches Bauen liegt seit Jahren im Trend.

Bildsichtung 2.Wir befinden uns in Österreich, Europa. Ein Kind auf einer Couch. Das Mädchen beim Sticken, die TV-Fernbedienung in Reichweite. Zwei glückliche, friedliche Kinder. Das traute Heim mit roten Wän den. Die E-Gitarre in der Zimmer ecke. Alle Bade zimmer sind überladen. Hier befin den sich die Well nesszonen. Eine Hauskatze im Wohnzimmer. Bunte Vorhänge. Rote Bettlaken. Sommermöbel auf einer Terrasse. Sommermöbel in einem Hinterhof. Eine entspannte Familie. Mansardenwohnträume. Wichtige Gegenstände eines privaten Lebensraums: Tisch, TV-Fernbedienung, TV-Radio, Lesebrille, da zu Tee und Mineralwasser. Weiters elektronische Geräte, Pflanzen, Bücher, Pin-up-Wände, Wandschränke, Regale. Die Stoffvorhangmuster meist bizarr.



Bildsichtung 3.Wir befinden uns in Österreich, Europa. Ein Wein keller mit erlesenen Weinsorten in den Regalen. Ein Spinnrad als Souvenir und holländische Teller. Hirsch geweihe mit Sitzlandschaften, ein riesiger Rosenkranz als Dekoration über einem Doppelbett. Ein Sessel wie bei einem Zahnarzt. Alles ist wuchtig und winzig zugleich. Hängt da etwa ein original Rembrandt-Gemälde an der Wand eines Wohnzimmers?
Blick auf einen Wintergartenzubau. Neben dem Wintergarten befindet sich eine Palme. Neben der Palme befindet sich ein richtiges österreichisches Haus. Wir sehen Pferde, Freilandhühner, ein Traktor und viele Autos. Wir befinden uns nun auf einem Bauernhof mit einem richtigen Kuhstall.
Bildsichtung 4.Wir befinden uns in Österreich, Europa. The Art of Living. Weiße Sommermöbel aus Plastic in einem Vorgarten. Blick auf eine riesige Bibliothekswand: „My home is my castle!“. Perfek te Sauberkeit dominiert in den verfliesten Badezimmern sowie Schlafzimmern. Alle Küchen sind sauber und perfekt. An den Wänden hängen Bilder und Spiegel, Kalendermotive und Kunstdrucke. Wieder eine Gitarre, wieder eine Sitzgarnitur, wieder ein Wäschetrocknergestell. Ein Esstisch, ein Gasherd, ein Microwave-Herd, eine Zimmerpflanze, eine Obstschüssel und das große Buch des Tantra.








Nach der Sichtung der Fotografien des Projekts „ZUHAUSE/AT HOME“ des Vereins „trans urban“ beginnt die Reflexion des Gesehenen und darüber hinaus. Einwegkameras mit ihrer simplen Technik wurden an Menschen in Österreich verteilt, um ihren Wohnort und ihre Lebensumgebung fotografisch festzuhalten. Ab hier beginnt das Sehen.
    Carl Aigner spricht in einem Text in Bilder Nr. 240/2009 der Fotogalerie Wien über die „Arbeit des Sehens“. Dabei geht es meist um das Thema Zeit und Raum. Die Belichtung ist Licht. Licht ist Physik. Analogfotografie ist aber auch noch immer Chemie. Ich lese, dass die klassische analoge Fotografie per se schon das Dokumentarische impliziert. Ich lese über das Momentum der Zeit und dass die Fotografie jenes Medium ist, das eigentlich dieses Momentum des Todes in neuer Weise zum Vorschein bringt. Die„Arbeit des Sehens“ – und hier stimme ich wohl aus eigener Erfahrung zu – ist die eigentliche Arbeit des Fotografen. Die fotografische Einstellung setzt auch eine persönliche Einstellung voraus.
   Die Teilnehmer an dem Projekt „ZUHAUSE/ AT HOME“ öffneten ihre Augen für ihre Umgebung. Sie dokumentierten ihren Wohnbereich, sie spüren ihre Lieblingsplätze auf, sie erzählen über individuelle Innenraumgestaltung, zeigen ihre Haustiere, öffneten ihre Badezimmertüren.
Die fotografischen Resultate lassen uns aber auch ein wenig tiefer blicken. Durch eine analytische Betrachtung lösen wir unzählige Reflexionen über das Wohnen, Design, Ambiente, Geschmack, Sitten, Schlafbereiche aus.
Wir sprechen von Österreich, der (laut Statistik!) achtreichsten Industrienation der Welt. Wir sprechen von Europa und seiner abendländischen Kultur. Wir sprechen von Demokratie. „Demokratie ohne Bildung ist gar nicht möglich“, sagte der Schriftsteller Robert Menasse in einem TV-Beitrag (a.viso, Sonntag, 13. Dezember 2009). Und weiter: „Eine Demokratie von Idioten kann es gar nicht geben.“ Genau für diese Bildung aber hat der (österreichische) Staat kein Geld. Wir sprechen also – es sei nochmals erwähnt – von der achtreichsten Industrienation der Welt!
   Wir leben in Zeiten der Krise. Die Sozialausgaben explodieren, die Steuereinnahmen sinken. In diesem Jahr, 2009, wird die Stadt Wien laut Finanzstadträtin bis zu 400 Millionen Euro weniger einnehmen als geplant. Der Bürgermeister denkt aber an kein Sparpaket und meinte: „Die Leute müssen für den privaten Konsum noch genug Geld in ihren Brieftaschen haben.“ (Tageszeitung Die Presse vom 26. August 2009).

Wir leben aber auch in einer sehr gierigen Konsumgesellschaft und gar viele Leute konsumieren sich zu Tode. Hedonismus, Materialismus, Luxus und Kapitalismus, Leistungsdruck und Wohlstandskrankheiten, Medikamentenkonsum und Alkoholis-mus, Nervenzusammenbrüche und Identitätssuche – das alles hat mit Wohnen zu tun – in Österreich und überall.
  Weil im Moment und schon seit längerer Zeit aktueller denn je: Globalisierung und Wirtschaftskrise, eigentlich zuvor Bankenkrise und auf diese folgend die Wirtschaftskrise, Neoliberalismus, Dschungelkapitalismus (Copyright: Jean Ziegler) und Oligarchenkapitalismus führen zu allerlei weiteren Betrachtungen in Österreich und aller Welt zum Thema Wohnen.
   „Junge sehen kaum Chancen auf Wohnung“ lautet eine Schlagzeile in der Tageszeitung Kurier vom Freitag, dem 4. Dezember 2009. Wegen der Wirtschaftskrise und der Angst vor dem Jobverlust steigt auch die Angst, sich die Miete nicht mehr leisten zu können. Eine Umfrage in Wien zeigt, dass besonders bei den unter 30-Jährigen die Skepsis groß ist. Glücklich, die eine Wohnung haben, unglücklich die, die eine Wohnung suchen. Das Ergebnis der Umfrage zeigte den Trend zur Zwei-
Klassen-Gesellschaft.



    Blicken wir zurück auf Japan, 1996: Die Haus- oder Wohnungssuche in Tokio geriet zum Alptraum. Die Preise dort sind Weltspitze. Eine vierköpfige Familie muss in Tokio statistisch mit 30 Quadratmeter auskommen. Monatsmiete damals (1996) um die 10.000 Schilling. Preiswerter sind die „Sechserpacks“. Wohnen in Tokio hat in der Regel nicht viel mit Design und Stil zu tun. Diese Behelfsunterkünfte verfügen über winzige Ein-Zimmer-Wohnungen mit Kochnische und Mini-Klo. Leute, die eine solche Behausung ergattert haben, zahlen in der Regel als Dank noch das „Rei-Kin“, ein Verbeugungsgeld. Die Höhe beträgt eine Monatsmiete. Es handelt sich hierbei um eine Tradition aus früheren Jahrhunderten. Durch den immer schon äußerst knappen Wohnraum zeigte sich der Mieter erkenntlich „für das große Glück, ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben.“
   Der damalige Bürgermeister Yukio Aoshima erinnerte an den Geist vor rund 200 Jahren, wo sich die Tokioter noch mit zehn Quadratmeter pro Familie sowie öffentlichen Küchen und Toiletten zufrieden gaben
   Und der nicht mehr ganz neue „Nakagin Capsule Tower“ des Architekten Kisho Kurokawa steht als eines der zukunftsweisendsten Beispiele modernen Wohnbaus. Eine Kapsel entspricht den 4,5 Tatami (Binsenmatte). Ein Tatami misst 90 x 180 cm. 4,5 Tatami entsprechen 7,3 Quadratmeter.



Blicken wir auf China 1999: Wir befinden uns nun in der zentralchinesischen Provinzhauptstadt Zhenzhou. Höhlen-wohnungen in chinesischen Lößgebieten. Im Rahmen eines Universitätsprojekts wurden die Höhlen mit modernen Wohnstandards ausgestattet. Die Menschen wohnen jetzt wieder lieber in den Höhlen als in Betonklötzen. Viele Chinesen haben für die Xy-Tong-Mützen, die als Pseudo-Pagodendächer viele chinesische Wolkenkratzer zieren, nur Spott übrig. China ist ein Land, wo pro Einwohner im Durchschnitt nur 8,8 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung stehen (1999). Aber die jungen Menschen in China – die jetzige Generation – wollen anders sein als ihre Eltern. Alles dreht sich um den neuen Fetisch Auto.
   Blick nach Hongkong. Diese Meldung geht auf den 21. Oktober 2009 zurück. Dort wurde nun die teuerste Wohnung der Welt in einem neuen Hochhaus verkauft. Der Käufer – wie könnte es auch anders sein – ein sehr wohlhabender Festland-Chinese, bezahlte für das 511 Quadratmeter große Penthouse mit Pool in der Luxusresidenz Conduit Road 39 stolze 36.000 Euro pro Quadratmeter. Damit schlug man auch den bisherigen Rekord-Immobilienpreise in Londons Innenstadt





In einem Artikel von Ute Woltron im „ALBUM“ der Tageszeitung Der Standard vom 30. April 2005 lese ich, dass „die Masse des in Österreich Gebauten als katastrophal zu bezeichnen ist“. Österreichweit werden pro Jahr laut Statistik etwa 17.000 private Ein- und Zweifamilienhäuser fertig gestellt. „Sieht man von den wenigen Kleinodien von qualitativ bemerkenswerten, engagierteren Privatbauten, die auch mit Architekturpreisen wie die ,besten Häuser‘ ausgezeichnet werden, einmal ab, blickt man auf ein außerordentlich weites, grässliches Meer letztlich unverantwortlich übler Häuser, deren Existenz durch nichts berechtigt ist“, so Ute Woltron. Bei den neun ausgezeichneten Projekten – jeweils eines aus jedem Bundesland – „gibt es keine goldenen Armaturen und mit Carrara-Marmor verkleidete Garagen für das Viertauto …“



Beim Sichten der Fotografien entdeckt der Betrachter private Lebenswelten. Wir schauen gerne in fremde Zimmer – mehr oder weniger verstohlen. Über den Blick in ein Zimmer suchen wir die Seele seines Bewohners. Ob plüschige Sofas oder ver-streute Objekte, Pantoffel, Utensilien oder exzentrisches Interieur – der Bewohner zeigt einen Teil seines Innenlebens. Wohnen muss jeder – und dazu gehört das Dach über den Kopf. Schlafen, Essen, Trinken, Arbeiten findet auch auf der Straße – notgedrungen – statt.
   Der mobile, unruhige moderne Mensch bringt viele Parameter ins Wanken. Es soll Menschen geben, die mit nur drei Stunden Schlaf täglich auskommen können. Oder vielmehr – auch notgedrungen – auskommen müssen!
    In Amerika wurden die Drive-in-Restaurants und die Autokinos erfunden. Der Urlaub dient zur Erholung und dafür plante man übergroße Hotelmaschinen. Das Frühstück wird in Form von „Coffee to go!“, die Pizza bei „Take-aways“, das Abendessen bei „Running Shushi“ genossen.
   Das westliche Lebensmodell dient beinahe der ganzen Welt als Beispiel. Durch die Architektur gelang es, die Wolken zu kratzen. „Wolkenkratzer“ nannte man die Hochhäuser, welche in den Himmel ragten. Ich lese aber auch, dass Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeitlang Coca-Cola verbot und, dass der Bauer José Bové zum Volkshelden wurde, weil er ein McDonald’s-Restaurant zerstörte Nicolas Sarkozy verkündete im Wahlkampf 2007, dass „alle französischen Eltern doch davon träumen, ihr Kind auf eine amerikanische Universität zu schicken“.



„Die Welt, in der wir leben, ist ein kleiner, gründlich erforschter Garten, umgeben von einem schummrigen und dunklen Wald der Katastrophen. In der Ferne lauern unzählige Katastrophen: Asteroiden und Kometen; weltweite Pandemien und Seuchen; Atomkriege und nicht atomare Konflikte; Dürren, Hungersnöte und Überschwemmungen etc.“, so Freeman Dyson, emeritierter Professor für Physik am Institut for Advanced Study in Princeton, New Jersey. (Tageszeitung Die Presse, vom 5. Dezember 2009).
    Gerhard Drekonja-Kornat (Tageszeitung Die Presse, vom 5. Dezember 2009) verweist auf die Tatsache, dass „die Globalisierung die Teilung in Erste und Dritte Welt aufgehoben hat. In diesem Sinne marschieren die Landlosen in Brasilien und Indien auch für uns.“


Blicken wir auf – ganz aktuell – Clichy-sous-Bois, einem Pariser Vorort im Nordosten der Stadt sowie auf die Wohnsiedlung „Am Schöpfwerk“ in Wien. Dezember 2009: Ich lese, dass 15 Kilometer Welten trennen können. Von den breiten Prachtboulevards der französischen Hauptstadt bis in die „Banlieue“ Clichy-sous-Bois sind es 15 km oder eineinhalb Stunden Fahrt mit mehrmaligem Umsteigen. Hohe Plattenbauten und ärmliche Häuschen. Es dominieren die Satellitenschüsseln.
    In der Siedlung leben 29.000 Menschen. Es gibt keine Bar, kein Kino, kein Schwimmbad. Leben findet auf dem Parkplatz eines Aldi-Supermarktes statt.
   McDonald’s wäre der einzige Treffpunkt für die Jugend. Trotz einiger Lichtblicke spricht man über Clichy-sous-Bois nur negativ. Ein kleiner Funke genügt und die Wut entlädt sich in Gewalt. Präsident Sarkozy will nicht wirklich von der Wohnmisere, der Arbeitslosigkeit, der Armut etwas wissen. Statt echter Hilfe sorgte er nur für verstärkte Videoüberwachung.
   Dieselben Probleme finden sich in der Wohnsiedlung „Am Schöpfwerk“ in Wien. Der 1982 fertig gestellte Bau gilt als Paradebeispiel für missglückte Stadtentwicklung. Auch hier gibt es aber einige Lichtblicke und „soziale Experimente“. Zwei Drittel der Bewohner haben einen Migrationshintergrund. Die Ursachen der Probleme lägen in der ungerechten Verteilung des Wohlstands. Inländer hätten im Durchschnitt 45 Quadratmeter Wohnraum, Türken nur 20. Eine österreichische Familie besteht durchschnittlich aus 2,2, eine türkische Familie aus vier Personen.



Ob all dieser angerissenen Fakten, denke ich, wäre es vielleicht förderlich, öfter in der Form eines Projekts wie „ZUHAUSE/AT HOME“ des Vereins „trans urban“, in fremde Zimmer zu schauen.
   Am Ende noch ein Blick nach Ungarn. In der Tageszeitung Kurier, vom 4. Dezember 2009, lese ich, dass zwei ungarische obdachlose Brüder, welche am Stadtrand Budapests in Zeltlagern hausten, 30 Milliarden Forint, umgerechnet 111 Millionen Euro von einer reichen Oma aus Deutschland erben werden. In Budapest gibt es Zehntausende Obdachlose. Die Sozialhilfen wurden gekürzt. Die wirtschaftliche Lage ist düster. Die Ärmsten leben in Wäldern am Stadtrand. Diese Menschen haben kein Zuhause mehr.


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